Free Fall

Vielleicht kennst du die Fall-Übung, welche wir kürzlich an unserem Free Fall Workshop in Glarisegg gemacht haben: Du stehst oben auf einem Tisch an seinem Rand und wirst dich von dort nach hinten fallen lassen. Du weisst, dass hinter dir Menschen stehen, die dich mit ihren Armen auffangen werden. 

Bisher habe ich niemanden gesehen, dessen Herz da nicht ins Zittern gekommen ist, selbst wenn er weiss, dass er aufgefangen wird.

Mir kommt es so vor, als ob jedeR von uns in den vergangenen 2 Jahren mehr oder weniger in einen solchen freien Fall befördert wurde. So vieles, woran wir bisher festgehalten haben, bietet keine echte Sicherheit mehr. Was gestern noch als unumstössliche Gewissheit oder Wahrheit erschien, kann morgen schon wieder wie eine Seifenblase der Scheinsicherheit zerplatzen. Niemand kann zu 100% wissen, was in dieser komplexen Situation wirklich hilft. Jeder hat eine andere Theorie. Die vielen Fakten sind zu komplex, als dass selbst die besten Experten uns eine einfache Lösung bieten könnten. Verwirrung und Chaos an allen Ecken. Und vor allem: Uns wird mit einer kaum da gewesenen Klarheit vor Augen geführt, wie verletzlich und sterblich wir sind. 

Wenn wir uns in den 5 Rhythmen im Chaos-Rhythmus den wilden und unkontrollierbaren Bewegungen des Körpers hingeben, dann braucht es Hingabe und die Fähigkeit loszulassen. Für den Verstand ist das eine schier unlösbare Aufgabe, weil er dazu da ist, uns mit Konzepten, Plänen, und Strategien eine relative Sicherheit zu bieten. Deswegen ist es gut, wenn wir uns beim Tanzen auf den Körper fokussieren. Wo hält er fest? Können sich auch am Kopf die vielen kleinen Spannungen im Kiefer oder im Nacken lösen, die durch das Denken entstehen? Darf das Herz seine Angst, die Wut oder den Schmerz des Loslassens einfach fühlen und ungehemmt fliessen lassen? Sie tauchen meistens als erstes auf, wenn wir die Kontrolle aufgeben und Unsicherheit oder Ohnmacht zulassen.

Oft habe ich das Gefühl, als würde mir im wilden Beat des Chaos eine unsichtbare und tonnenschwere Last von den Schultern fallen. Da taucht ein Schrei auf, es tobt wie wild aus mir heraus, ein unkontrollierbares Zittern in den Händen oder in den Knien, manchmal fliessen einfach nur die Tränen: Jede Zelle des Körpers wird von enorm starken Energien geflutet. 

Ich staune fast immer, wenn mein Körper dann im Lyrik-Rhythmus federleicht durch den Raum fliegt und mit einer ungeahnten Leichtigkeit ganz neue Bewegungsimpulse erfindet. Es ist wie ein Hineinfallen in eine Wirklichkeit, die sich in jedem Moment völlig neugestaltet. Begegnungen mit TänzerInnen sind erfüllt von einer kindlich-spontanen Freude, die überhaupt nicht wissen muss, was als nächstes kommt und schon längst vergessen hat, was vorher noch war. 

Was wurde ich in den vergangenen zwei Jahren mit solchen überraschenden Geschenken überhäuft, die mitten im Chaos und in Verwirrung geboren wurden. Ihnen allen ging tiefsitzende Ängste vor Veränderung und der Schmerz des Loslassens voraus. 

Luftaufnahme: Personen im Kreis um ein Feuer in Schneelandschaft
Drohnenfoto un seres Feuertanzes auf der Schweibenalp 18.12.21

Meine Arbeit wurde durch die Massnahmen immer wieder in Frage gestellt. Daraus entstanden neue Formen wie das Outdoortanzen oder die religiösen Feiern. 

Mein kontrollierender Verstand hat immer weniger Ahnung, was ich an einem Workshop oder Anlass wirklich anleiten soll. Das hat mir immer Angst gemacht. Und doch geniesse ich es immer mehr, mich intuitiv von spontanen Impulsen überraschen und leiten zu lassen. Sie bewirken eine starke Präsenz in mir und ein tänzerisch-magisches Energiefeld, wie es niemals durch Planung entstehen könnte. Nicht zu wissen, was als nächstes kommt, kann so befreiend sein.

Und schliesslich hat eine Frau all meine Glaubenssätze über Beziehung derart auf den Kopf gestellt, dass ich immer weniger darüber Bescheid weiss. Und das machts erst richtig spannend. Mit ihr radikal ehrlich zu sein ist wahrlich kein Zuckerschlecken, aber unendlich befreiend. Auf einmal sind tiefsitzende Ängste vor Verbindlichkeit und Heirat dahin geschmolzen. Und ich habe Ja zu einem gemeinsamen Lebensweg gesagt. 

Und dann das: Uns wurde ein unerwartetes Kind geschenkt. Seit dem 21. Dezember ist klar: Wir ziehen in kommendem Jahr auf einen kleinen Bauernhof in Zürich-Höngg und verwirklichen auf Zürcher Stadtgebiet unsere Vision von einem Leben mit Natur und Tanz. Anina wird das Anwesen mit interessierten Menschen in eine Permakultur-Oase verwandeln. Und wir laden Menschen dazu ein, mittendrin zu tanzen. Unsere Körper verschmelzen mit den Energien von Mutter Erde, von Pflanzen, Tieren, Bäumen, Wasser und Wind zu einem einzigen Tanzfeuer.

Natürlich können wir auch mit den schönsten Plänen nicht wissen, was wirklich auf uns zukommt. Corona hat uns gelehrt, dass eh immer alles ganz anders wird, als wir es wollen oder uns vorstellen. Aber solches Chaos stellt keine Bedrohung mehr da. Es wird zu einer ständigen Quelle für Kreativität, Spontaneität, Überraschungen und Lebensfreude aus dem Moment heraus. Ein Leben im Freien Fall.