Vom Leben und Sterben

Vater von Andreas mit Glücksklee

Als 5 Rhythmen-Lehrer habe ich mir ein sehr bewegtes Leben ausgesucht. Nicht nur bei meinen Tanzanlässen sondern auch persönlich fühle ich mich manchmal wie in einer ständigen Achterbahnfahrt. Seit zwei Jahren schleudert es mich dabei in alle möglichen Höhen und Tiefen. Die Heirat mit meiner Königin Anina hat mich aus einem Dornröschenschlaf geweckt. Und schwupps bin ich wie aus dem Nichts in einem königlichen Paradies, dem Beckihof in Zürich-Höngg gelandet (beckihof.ch), wo ich seit einem Jahr mit Anina und ihrem Sohn Moa leben und wirken darf. Kaum dort angekommen wird diese ganze Schönheit mit einer lebensbedrohlichen Herzkrankheit gleich wieder in Frage gestellt. Eine Spezial-Operation beschert mir mein erstes Nahtoderlebnis. Danach falle ich in eine wochenlange tiefe Depression und fühle mich unendlich abgespalten vom Körper. Die besondere Nähe und Liebe zu Anina und unserer «zufällig» zugelaufenen Hündin Fiamma erfüllt mich mit ungeahntem Lebensmut. Und so erlebe ich in einer Art Wiedergeburt einen der schönsten Frühlinge in meinem Leben. Ich geniesse es, bei jedem Wetter stundenlang mit Fiamma über Felder, Wald und Wiesen zu laufen und dabei die Kraft der Frühlingssonne und des lieblichen Regens aufzusaugen. Und genau in diesen herrlichen Frühlingstagen beschliesst mein 93järiger Vater, dass es an der Zeit ist, sich für immer zu verabschieden. Mir kommt es so vor, als hätte er noch seine letzte väterliche Pflicht erfüllen wollen, um beruhigt gehen zu dürfen. Während meiner Herzkrankheit hat er all seine schwindende Energie dafür aufgebracht, um täglich für mich zu beten, Kerzen für mich anzuzünden und mit mir in Verbindung zu sein. Erst als klar war, dass ich über den Berg war, konnte er abgeben. Er hat einfach aufgehört zu essen. Und so ging es keine zwei Monate, bis er vor zwei Wochen friedvoll für immer einschlafen durfte. Er starb in aller Herrgottsfrühe an einem Montag-Morgen. Dieser herrliche Frühlingstag wird für mich in unvergesslicher Erinnerung bleiben.

Ich durfte an seiner Seite die Totenwache für ihn halten. Vor seinem Zimmer standen die Bäume in voller Blüte und die Vögel sangen das schönste Frühlingskonzert zu seinem Tod. Was habe ich geweint, gesungen, ihn gestreichelt und seine immer kälter werdenden Hände gehalten.

Die grösste Ehre für mich war, dass ich ihn zusammen mit meiner Schwester für seine letzte Reise herrichten durfte. Zusammen haben wir seinen hilflosen und abgemagerten Körper gewaschen, eingecremt und liebkost. Wir haben uns dabei mit viel Tränen in den Augen Geschichten und Anekdoten von seinem Leben erzählt. Ich musste vor lauter Lachen brüllen, als meine Schwester meinte: «Ohne sein geliebtes Sackmesser kommt er mir aber nicht in den Sarg. Das braucht er für seine Reise.» Seit diesem Tag kommt es mir so vor, als wäre ein Teil von mir mit ihm dorthin gereist, wo es keine Zeit und keinen Raum gibt. Wie von einem himmlischen Königsthron blicken wir mit einer unendlichen Erleichterung auf unser irdisches Leben in Körpern, in Raum und Zeit zurück. Von dort erscheint es in all seinen Irrungen und Wirrungen, in seinen Schicksalsschlägen, persönlichen Dramen und Freudenfeiern wie ein grossartiger und geheimnisvoller Traum voller Überraschungen. Hier wo alles in seiner Vergänglichkeit dem Tod geweiht ist, kann man sich an nichts wirklich festhalten. Alles verändert sich ständig, nichts bleibt wie es war. Aber das was uns als körperliche Wesen manchmal wie ein auswegloses Drama erscheint, erfüllt uns von unserem himmlischen Königsstuhl aus mit einem grossen befreiten Lachen.

Vater von Andreas lehnt an Jesus-Kreuz
Mein Vater auf einem unserer gemeinsamen Ausflüge vor zwei Jahren. Unter der Schwere des Kreuzes konnte er mit seiner katholischen Geschichte erst in seinen letzten Lebensjahren entspannen. Diese Gelassenheit in Bezug auf Religion und Spiritualität ist für mich zu einer Berufung geworden.

Was hat das alles mit dem freien Tanzen zu tun, für das ich in meinen Anlässen den Raum öffne? Für mich sind diese Tanzräume Orte, an denen das Leben sehr verdichtet in seiner unglaublichen Fülle an allen möglichen Gefühlen, Begegnungen, Dramen und Spielen erlebt werden kann: eine Art Turbo-Achterbahnfahrt, wie es auch viele von Euch beschreiben, die schon einen Workshop bei mir gemacht haben. Gerade dann, wenn alles so intensiv und abenteuerlich erlebt wird, kann es enorm befreiend sein, sich darin wie in einem surrealen Traum zu bewegen und zu tanzen. Auch wenn all die Geschichten, die dort entstehen für den Verstand und die eigene Persönlichkeit absolut echt erscheinen: Vielleicht sind sie nur eine Art geträumtes Wunder, in das man mit einem kindlichen Staunen hineinstolpert und dabei mit ständigen Überraschungen gesegnet wird. Egal ob es als ein einziges Leiden oder als ein unglaubliches Freudenfest erscheint: Es kann erkannt werden, dass alles nur ein Mysterium ist, das man nie wirklich verstehen kann und auch nicht muss. Das Leben ist kein Problem, das man lösen müsste. Es ist vielleicht einfach nur ein Geheimnis, ein einzigartiger Tanz, den man aus einem kindlichen Herzen voller Liebe zu sich und zur Welt tanzen kann.

Mit einem weinenden und lachenden Herzgruss

Andreas