Die Reise begann genaugenommen vor 30 Jahren. Damals war ich Theologe durch und durch, ein Kopfmensch mit Leidenschaft für dicke Bücher und philosophische Abhandlungen über das Sein oder Nichtsein. Stundenlang saß ich in Bibliotheken oder durchstöberte Buchhandlungen.
Das Tanzen kannte ich nur von der Disco – ein Ort, an dem ich mich mit den vielen Energien in meinem Körper austoben konnte. Dort hatte ich bereits den Spitznamen «der Abräumer»: Wenn ich die Tanzfläche betrat, wurde es schnell leer um mich. Sobald die ersten fetzigen Beats einsetzten, packte mich eine Urgewalt mit solcher Intensität, dass es den meisten schlicht zu gefährlich wurde, in meiner Nähe zu tanzen. Michael Jacksons „I’m Bad“ war einer dieser Songs, bei denen ich regelmässig zwei, drei T-Shirts durchschwitzte. Die wilden Tanznächte standen in krassem Gegensatz zu meinem Alltag als angehender Jugendseelsorger: ein Doppelleben zwischen Kopf und Körper, Denken und Fühlen.
Auf einer meiner Buchhandlungstouren fiel mir ein Flyer in die Hände: ein Workshop zu den 5Rhythmen. Von „bewusstem Tanzen“ hatte ich noch nie gehört, aber die Worte über „Befreiung der Seele im ekstatischen Tanz“ faszinierten mich, auch wenn ich kaum eine Vorstellung hatte, was sie bedeuteten. Neugierig meldete ich mich an.
Schon der erste Tag war eine Herausforderung. Die fließenden Bewegungen, die lauten Schreie, das Ausdrücken von Gefühlen wie Wut und Trauer und dann wieder ganz still werden – ich fühlte mich wie auf einer Akutstation der Psychiatrie. Nichts davon passte in meine Welt.
Trotzdem kam ich wieder. Warum wusste ich selbst nicht. Am zweiten Tag sass ich weit abseits ganz hinten in der Turnhalle und beobachtete misstrauisch den 5Rhythmen-Lehrer hinter seinem DJ-Pult. Und dann geschah es: Eine Stimme in mir, glasklar und unmissverständlich sagte wie in einem Befehl: „Dort ist dein Platz!“

Bäng! Das war’s. Dieser Satz ließ keinen Zweifel zu, er traf mitten ins Herz, auch wenn mein Verstand rebellierte. Gerade hatte ich mein Studium abgeschlossen, meine erste Stelle als Jugendseelsorger angetreten – und jetzt das? Sollte ich alles aufgeben für etwas, das ich kaum verstand? Die 5Rhythmen schienen mir so fremd, esoterisch, fast sektiererisch. Doch die Stimme ließ mich nicht los.
Ich begann regelmäßig zu tanzen und pilgerte dafür stundenlang ins deutsche Freiburg, weil es in der Schweiz noch keine 5Rhythmen-Angebote gab. Dort, in einer alten Turnhalle betrat ich meine neue Welt.
1999 hing ich meine Kirchenkarriere an den Nagel und pilgerte nach Santiago de Compostela, um Klarheit zu finden. Unterwegs tanzte ich oft in leeren Kirchen. Es war wie ein neues Beten. Mein Körper verband sich mit etwas Grösserem, was ich mit dem Verstand nicht wirklich erfassen konnte: eine völlig neue Dimension in meiner spirituellen Reise.
Zurück in der Schweiz sprach ich mit Berufsberatern. Fast alle schüttelten den Kopf. Haben Sie einen Business Plan? Haben Sie eine Marktanalyse durchgeführt? Haben Sie finanzielle Rücklagen für den Beginn ihrer Selbständigkeit? Hatte ich alles nicht. Aber ich hatte eine innere Gewissheit: mein Herz hatte den Ruf gehört – und war bereit für Sprung.
Im Jahr 2000 begann ich die Ausbildung zum 5Rhythmen-Lehrer in New York. Von Freunden lieh ich mir Geld, um mir das Ganze finanzieren zu können. Und ich veranstaltete erste kleine Tanzabende, privat, und später öffentlich in einer kleinen Gymnastikhalle der Brühlgut-Stiftung in Winterthur. Mit einem billigen Ghettoblaster und ein paar CDs stand ich dort, vor gerade einmal zwei Tänzern, die sich dorthin verirrt hatten.
Und ich wusste: Hier ist mein Platz!
Damals hätte ich mir nicht träumen lassen, wie sehr diese Arbeit in den darauffolgenden Jahren mein ganzes Leben auf den Kopf stellen und prägen würde.
In den kommenden Newslettern werde ich über einige dieser Irrungen und Wirrungen, über Höhenflüge aber auch von Frusterlebnisse und über die Entstehung einer Tanzgemeinschaft erzählen, die das Leben von vielen Menschen verändert hat.
