Meine ersten Erfahrungen mit den 5Rhythmen, von denen ich im letzten Beitrag berichtete, waren für meinen kontrollierenden Verstand zutiefst verwirrend. Doch noch verstörender waren meine ersten Begegnungen mit Gabrielle Roth, der Begründerin der weltweiten 5Rhythmen-Bewegung.
The fastest, cleanest, most joyful way to break out of your own box is by dancing. I’m not talking about doing the stand-and-sway. I’m talking about dancing so deep, so hard, so full of the beat that you are nothing but the dance and the beat and the sweat and the heat.
Gabrielle Roth

Als ich vor drei Jahrzehnten meine ersten Erfahrungen mit den 5Rhythmen machen durfte, wusste ich noch nicht viel über Ihre Gründerin Gabrielle Roth. Ich war einfach nur fasziniert davon, wie sehr mich die Erfahrungen, die ich beim 5Rhythmen-Tanzen machen durfte, verändert haben. Es dauerte ganze 5 Jahre, bis ich mich entschloss, Gabrielle an einem Workshop persönlich zu erleben.
Ich hatte hohe Erwartungen an diese erste persönliche Begegnung mit ihr. Eine Frau, die eine derart kraftvolle und globale Bewegung ins Leben gerufen hatte, musste in meiner Vorstellung eine charismatische Powerfrau voll sprühender Lebensenergie und tiefer spiritueller Weisheit sein.
Als ich sie dann 1999 zum ersten Mal in einem Workshop in London sah, war ich jedoch überrascht, ja fast schon enttäuscht: Vor mir stand eine zierliche, ganz in Schwarz gekleidete und zerbrechlich wirkende Frau. Ihre Stimme war sanft, ihr Tanz von fragiler Sensibilität geprägt. Doch am meisten irritierte mich ihre geheimnisvolle, fast düstere und für mich latent bedrohliche Ausstrahlung. Jedes Mal, wenn ich ihr begegnete, verspürte ich eine eigentümliche Angst. Vielleicht lag es an meiner strengen katholischen Prägung – damals war ich noch als Jugendseelsorger in der Kirche tätig –, dass mir diese Frau fast schon wie eine Hexe erschien.
Gabrielle als Hexe
To sweat is to pray, to make an offering of your innermost self. Sweat is holy water, prayer beads, pearls of liquid that release your past.
Gabrielle Roth
The more you dance… the more you sweat, the more you pray. The more you pray, the closer you are to ecstasy.

Sie trug fast immer Schwarz. Wenn ich unter ihrer Anleitung tanzte, geschahen Dinge mit mir, die ich mir nicht erklären konnte: Da konnte wie aus dem Nichts eine unendliche Trauer aus mir ausbrechen, und ich weinte hemmungslos. Ebenso schnell konnte sich meine Stimmung in überbordende Freude verwandeln, in der ich am liebsten jeden im Raum umarmt hätte.
Besonders eindrücklich in Erinnerung ist mir eine Heartbeat-Session (5Rhythmen Arbeit mit den Grundgefühlen), in der ich mit meiner unterdrückten Wut in Kontakt kam. Es war, als würde ein innerer Dampfkessel explodieren: Ich stampfte, tobte, sprang herum und schrie wie ein Besessener – oder eben wie ein Verhexter. Eine jahrzehntelang unterdrückte Wut brach wie ein heißer Lavastrom aus mir heraus. Ich fragte mich damals ernsthaft, ob mir unbemerkt Drogen verabreicht worden waren – oder ob ich gar in einer Sekte gelandet war, die mit perfiden Methoden der Gehirnwäsche arbeitete. Kein Scherz: Diese Urängste stiegen immer wieder in meinem katholisch geprägten Verstand auf und begleiteten mich durch meine gesamte Ausbildungszeit.
Doch in Wirklichkeit geschah etwas ganz anderes: Ich bekam endlich Zugang zu meinen Gefühlen. Der eiserne Schutzpanzer ums Herz begann zu bröckeln. Es begann wie wild sein Lied zu singen und tanzte sich im stampfenden Beat der Musik in seine volle wilde Kraft hinein. Das ist gefährlich für einen Verstand, der nur darauf aus ist, alles unter Kontrolle zu haben. Wahrscheinlich erging es den machtbesessenen Priestern im Mittelalter auch so: Eine derart starke emotionale und seelische Freiheit, von der damals viele Frauen wussten, konnten sie nur als gefährliches Hexenwerk verstehen, das man auf Scheiterhaufen verbrennen muss.
Ein einziges Mal hatte ich den Mut, Gabrielle in einem Brief meine Ängste zu schildern. Offen schrieb ich ihr, dass mich die gesamte Ausbildung an einen satanischen Kult erinnere, in dem wir als «Priester» rekrutiert werden sollten. Ihre Reaktion war bezeichnend für ihren einzigartigen Humor und ihre entwaffnende Art: Am nächsten Tag erschien sie wie gewohnt in Schwarz – doch diesmal prangte auf ihrem T-Shirt ein großes, umgekehrtes weißes Kreuz, das Symbol des Antichristen. Sie begrüßte mich mit einem schelmischen Lächeln: «Good morning, Andreas. Welcome to hell!» Und zog lachend davon. Mein Lachen blieb mir damals jedoch im Hals stecken.
Gabrielle und Hitlers Schatten
Ein besonderes Erlebnis mit ihr zeigte mir damals, wie furchtlos sie sich auch den dunkelsten und tief verwundeten Aspekten der menschlichen Psyche stellte.
In einem Workshop in Hamburg arbeiteten wir tänzerisch mit männlichen und weiblichen Archetypen. Gabrielle inszenierte ein rituelles Theater, in dem wir die dunklen Schattenseiten dieser Archetypen verkörpern sollten. Als wir den „Vater“-Archetyp behandelten, verspürte ich plötzlich einen unwiderstehlichen Impuls: Ich stand auf, trat in die erste Reihe, streckte immer wieder meinen rechten Arm aus und rief im wiederholten Staccato „HEIL!“ in den Raum.
Das Lachen verstummte schlagartig. In einer Stadt wie Hamburg, in der Hitler und die Nazis oft ihre Versammlungen abhielten, laut und wiederholt den Hitlergruß zu skandieren, war alles andere als eine harmlos-lustige Provokation. Ich selbst war fassungslos über meine Entschlossenheit und Kälte in diesem Moment. Es fühlte sich an, als hätte eine größere, fremde Macht meinen Körper übernommen.
Jeder erwartete von Gabrielle, dass sie die Szene abbrechen würde. Doch sie tat das Gegenteil: Sie bat zehn Menschen, sich hinter mich zu stellen und mit mir gemeinsam den Hitlergruß auszuführen. Die Stimmung kippte vollends. Es war, als wären wir mitten in Nazi-Deutschland gelandet.
Ich konnte in meinem Körper spüren, was damals in den Menschen vorgegangen sein musste, als sie mit ihrem ausgestreckten Armen einem Diktator zujubelten, der die Welt ins Verderben führte. Ich fühlte ihre Hoffnung, ihren Größenwahn, ihre kindliche Sehnsucht nach einem starken Anführer, der sie aus ihrer Demütigung nach dem Ersten Weltkrieg herausführen würde.
Mit jeder Wiederholung des Grußes breitete sich zunehmend eine fast schon panikartige Stimmung im Raum aus. Einige erhoben sich und flehten Gabrielle förmlich an, das Experiment zu beenden. Doch sie forderte sie auf, selbst vor mich und meine Mitschreier zu treten und uns zu sagen, dass wir aufhören sollten. Einige wagten es und baten uns mit vorwurfsvoller aber auch ängstlicher Stimme: „Bitte hört jetzt auf, es reicht.“
Ihr Flehen wirkte auf mich nicht abschreckend – im Gegenteil. Ich spürte mein inneres Machtgefühl durch ihre Unsicherheit noch grösser werden. Und plötzlich verstand ich: Gerade diese moralische Verurteilung ist es, die Neonazis auch heute noch Auftrieb gibt. Die öffentliche Ablehnung macht sie erst recht sichtbar, und gibt ihnen das Gefühl von Bedeutung und Macht. Es ist wie bei ungeliebten Kindern, die mit ihrem rebellischen Verhalten viel negative Aufmerksamkeit bekommen. Ein Phänomen, das wir gerade in der heutigen Zeit mit dem Aufschwung rechtsnationaler Parteien in Europa und Amerika wieder erfahren müssen.
Als wir nach dieser Sequenz im freien Tanzen unsere Gefühle in Bewegung bringen konnten, war es als hätte sich der Deckel von einem Dampkochtopf gelöst. Was da an Wut, Schmerz, Trauer, Verwirrung aber auch Erleichterung zum Vorschein kam, war wie ein emotionaler Vulkanausbruch. Unsere Eltern und Großeltern konnten ihre Traumata aus dieser Zeit nie wirklich verarbeiten. Doch wir Kinder und Enkel haben die Chance, sie als Verwundungen zu fühlen, anzuerkennen und in Bewegung loszulassen und brauchen diese unsichtbare Last in unseren Körpern nicht mehr weitertragen.
Gabrielle hatte den Mut, uns mit dieser Wahrheit zu konfrontieren. Und sie zeigte mir einmal mehr, dass diese kleine, zerbrechliche Frau bereit war, sich auch den grössten Dämonen zu stellen und ihnen direkt ins Auge zu schauen.
Sowas kann wahrlich nur eine echte Hexe. Und ich habe mich von ihr verführen lassen.
Es scheint, als wäre ich doch noch zu einem ihrer Hexenpriester verwandelt worden.
Gottseidank!