Vor ein paar Tagen durfte ich meinen 55. Geburtstag feiern: Gleich zweimal die Zahl 5 (Rhythmen 😉 ) Dabei kam es mir mit der neuen Corona-Situation so vor, als würde ich mit der ganzen Menschheit in einen neuen kollektiven Geburtsprozess mit ungewissem Ausgang eintreten. JedeR von uns hat in den vergangenen Wochen der Quarantäne so etwas wie die ersten heftigen Presswehen einer Hausgeburt durchgemacht.
Anfangs regte sich noch recht viel Widerstand in mir gegen die drastischen Lockdown-Massnahmen. Doch mit der Zeit haben sich so viele ungeahnte Wunder in diesem Zwangsretreat ereignet, welche ich rückblickend als einziges riesiges Geburtstagsgeschenk des Universums an mich erfahren habe. Ich habe meine schöne Loft-Wohnung gekündigt und bin vorübergehend in eine Gartenlaube mit unmittelbarer Nähe zum Wald gezogen. Jeden Tag im Garten zu wirken und alleine in der anfangs noch ungewohnten Stille der Bäume zu meditieren und zu tanzen, hat meine verwirrten Gedanken und Meinungen in dieser kollektiven Krise enorm beruhigt und geerdet. Es schien als würde die vom Virus unberührte und von soviel Sonnenkraft belebte Frühlingsnatur zu mir sprechen: «Beruhige dich. Du brauchst keine Angst zu haben, auch wenn du durcheinander bist im Kopf und im Herzen. Das Leben geht weiter. Pflanzen und Tiere sterben täglich in mir, wie ihr Menschen auch. Aber sie schaffen Platz für Anderes. Aus ihrem Humus wächst zart aber kraftvoll schon das neue Leben.»
Die lebendige Stille des Waldes und seiner Lebewesen direkt vor meiner Haustür, seine tausend mystischen Geheimnisse und Überraschungen verbunden mit der äusseren Beruhigung des Alltaglebens durch den Lockdown, wirkten auf seltsame Weise faszinierender als meine vielen Reisen in alle möglichen unbekannten Länder unseres Planeten. Die Botschaft war klar: Jetzt ist es Zeit, dein Leben auf das Wesentliche zu reduzieren: Ich habe meine alte Wohnung ausgemistet und nur noch die Dinge behalten, die für meine Arbeit und ein einfaches Leben nötig sind. Mir wurde bewusst, dass es erfüllender ist, wenige- aber dafür ehrliche und verletzliche Begegnungen mit Menschen anstatt viele unverbindliche und nette Kontakte aufrecht zu erhalten. Die Krönung dieser Reduktion bestand in einem für mich fast schon aberwitzigen Sprung in eine feste und verbindliche Liebesbeziehung. Und das, wo ich in den vergangenen 5 Jahren Single-Dasein mir und meinen Freunden ständig gepredigt habe, mich nie wieder auf ein so «aussichtsloses Drama» einzulassen. Ziemlich schnell wurde mir auch klar, warum: Sich ohne grosse äussere Ablenkungen, mit radikaler Ehrlichkeit und mit einem klaren Commitment auf einen Menschen einzulassen, liess in einem Rekordtempo so viele unbewusste und uralte innere Schutz- und Abwehrmuster in mir reihenweise zusammenfallen. Manchmal kam ich mir wie ein Haufen Elend vor, wenn wieder mal ein kindliches Trotzverhalten («Ich lass mir von niemandem sagen, was ich darf und was nicht»), mein Suchtpotenzial, eine tief sitzende Scham oder eine innere Unsicherheit so schonungslos offen gelegt wurden. Jetzt gab es kein Wegrennen mehr. Was habe ich geheult vor Schmerz, gezittert aus Angst, innerlich getobt vor Wut? Aber je wehrloser ich mich den kindlichen Verletzungen auslieferte, je demütigender mir manche Enthüllungen meines Ritterrüstung-Egos vorkamen, desto stärker und wundervoller wirkten auch die Heilungen dieser alten Wunden. Es kommt es mir so vor, als würden Tonnen unsichtbarer Schwere von mir fallen, Wenn da wieder eine weitere Schutzschicht von mir entblösst wird.
Ich erlebte eine ungeahnte Achtsamkeit und Sensibilität für die kleinen Schönheiten des Alltags. Da fühlte ich mich wie ein kleiner Junge im Paradies, wenn ich mein Gesicht in feuchtwarmes, weiches Moos legen durfte und den betörenden Duft von Mutter Erde in mich aufsog.
Selbst das scheinbar zerstörerische Werk der Borkenkäfer, die sich durch die Rinde sterbender Bäume gefressen haben, kam mir schöner vor als das beste jemals aus Menschenhand erschaffene Kunstwerk.
Inzwischen schreibt mir jeder Tag völlig neue ungeahnte Geschichten in mein Lebensdrehbuch, dessen Reiz gerade darin zu liegen scheint, dass Dinge anders laufen als geplant.
Da freue ich mich fast schon darüber, wenn mir mal wieder scheinbar Steine in den Weg gelegt werden. Oft entpuppen sie sich letztlich nur als Türöffner in ein neues, ungeahntes und faszinierendes Abenteuer. So haben mir die manchmal sinnlos vorkommenden Distanzregeln ein ganz neues Bewusstsein über das geschenkt, was einen ehrlich-echten und achtsamen Kontakt wirklich ausmacht. Jemanden automatisch immer umarmen zu wollen, kommt aus unserer starken Sehnsucht nach Verschmelzung und harmonischer Einheit. Wird es zu einem unbewussten Ritual, kann es schnell zu einem Abwehrmuster werden, in dem wir es vermeiden, einem Menschen die eigene Unsicherheit und Verletzlichkeit zu offenbaren. Was wäre, wenn wir uns stattdessen dieser Angst stellen und einfach vor einem Menschen unsicher stehen bleiben, ihm in die Augen schauen und nichts tun, bevor wir ihn umarmen?
Ein anderes magisches Stolperstein-Beispiel war eine Auseinandersetzung mit den Vermietern der Freizeitanlage in Winterthur-Seen, wo wir mittwochs bisher unsere Sweat-your-prayers-Abende tanzen durften. Ihre Haltung, diesen schönen Ort nur unter sehr strengen Sicherheitsvorkehrungen für uns zu öffnen, hat mir den nötigen Arschtritt verliehen, mich intensiv auf die Suche nach einem neuen Tanzort zu begeben. Wie durch ein Wunder haben sich da ungeahnte Türen geöffnet. Und bereits ab kommendem Mittwoch dürfen wir in einem riesigen- und schönen Theatersaal des Kirchgemeindehauses Liebestrasse in Winterthur tanzen.
Was bedeutet das für meine Tanzarbeit als 5 Rhythmen-Lehrer?
Ich schreibe gerne so offen über meine persönlichen Erfahrungen, weil ich in Gesprächen und Feedbacks oft erlebe, dass es vielen Menschen mit den Corona-Veränderungen ähnlich ergeht. Als 5 Rhythmen-Lehrer erlebe ich mich dabei nicht mehr im klassischen Sinn als einer, der etwas mehr wüsste und dieses Wissen an Weniger-Wissende vermitteln möchte. Vielmehr sitze ich im gleichen Boot, wie jedeR von Euch, die zu meinen Anlässen kommen. Manchmal bin ich erstaunt darüber, wie manch eineR aus der Tanzfamilie mit bestimmten herausfordernden Lebens-Themen einen viel leichteren und klareren Umgang gefunden hat als ich. Dann empfinde ich mich eher als Lernender denn als Lehrer.
Im Grunde sehe ich meine besondere Rolle im Tanzfeld als begleitender Unterstützer. Das englische Wort «Facilitator» passt für mich am besten. Gerade in den Themen, in denen ich selbst tief verwundet bin, biete ich einen gehaltenen Raum an, in dem Menschen mit ähnlichen Geschichten auf ganz individuelle Weise und in eigenem Tempo Heilung erfahren. Wenn ich darin erlebe, wie Menschen sich in Tanz und Bewegung als vollständiger, liebender und berührbarer erleben, erfüllt mich das mit einem unbändigen Glücksgefühl. Es ist wie in einem gegenseitigen Liebesspiel: Je mehr wir den Mut haben, uns einander zu zeigen und zu öffnen, desto mehr Mitgefühl und Liebe fliesst zu uns zurück. Da wird die Heilung jedes Einzelnen auch zur Heilung aller Anwesenden. Deswegen braucht es auch keine Gurus oder LehrerInnen mehr in Form von Menschen. Wir als forschende Tanzgemeinschaft sind der Guru, aus dem Heilung und Liebe in viel grösserem Masse ins Fliessen kommen, als das bei einem einzelnen Menschen möglich ist.
Um als «Facilitator» besonders kraftvoll wirken zu können, braucht es für mich einige Grenzen, die ich neu am Erforschen bin. Auch wenn ich mich als eine Art Vorzeige-Modell erlebe und auch für alle möglichen Projektionen offen bin, bin ich kein Therapeut. Selbst wenn ich mich in diesem Newsletter und in den Tanzräumen mit meinen Themen zeige, kann ich damit privat nicht in einen tieferen persönlichen Kontakt gehen. Dafür ist die Tanzgemeinschaft als Ganzes da und einige wenige und ausgewählte Menschen, die mich therapeutisch oder in einer privaten Liebesbeziehung unterstützen. Je klarer ich diese gesunde Distanz in persönlichen Kontakten zu TänzerInnen in meinem privaten Leben halten kann, desto klarer kann ich auch mit meinen Fähigkeiten am Aufbau unseres gemeinsamen heilenden Energiefeldes wirken. Deswegen kann es gut sein, dass ich beispielsweise nicht mehr jede Email beantworte, dass ich an einem Anlass nicht mehr automatisch jedeN umarme oder dass ich auf ein Kontaktangebot ablehnend reagiere, selbst wenn ich mich im Tanzraum noch so offen und verletzlich gezeigt habe. Meine LehrerIn Gabrielle sagte dazu oft: «Was im Tanzraum passiert, bleibt auch im Tanzraum.» Ich bin mir sicher: Mit solchen gesunden Grenzen wirkt diese Arbeit noch stärker.

P.S. Während des Lockdowns hatte ich viel Spass daran, meine Erkenntnisse aus dem Tanzen im Wald in kleinen Video-Clips aufzunehmen und sie auf einem eigenen Youtube-Kanal online zu stellen.
Mit den besten Corona-Krönungs-Grüssen
Andreas